Corona und Cynefin

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Cynefin? Gesundheit! Nein, Cynefin ist kein neuer Virus. Cynefin ist ein walisisches Wort und bedeutet Umgebung oder Habitat. Ausgesprochen wird es [Kü-nä-wi-en] oder [Kü-nä-win] (https://de.forvo.com/word/cynefin/) Es handelt sich hierbei um ein Modell, mit dem ich meine Beobachtungen aus der aktuellen Corona-Diskussion aufgreifen und einordnen möchte. Seit März 2020 hat mir das Modell geholfen, gelassen mit der Situation umzugehen.

Vor 20 Jahren wurde das Cynefin-Modell von Dave Snowden entwickelt, als er der Frage nachging, welche unterschiedlichen Herangehensweisen es gibt, um Herausforderungen zu meistern. [2]

Bevor ich den Zusammenhang zu den Herausforderungen der Corona-Pandemie erkläre, beschreibe ich kurz das Modell mit seinen fünf Bereichen.

KLAR (FRÜHER OFFENSICHTLICH)

Im klaren Bereich gibt es eine Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, die für jede Person nachvollziehbar ist. Jeder Mensch kann diese Beziehung verstehen. Sie zeigt zeitlich in die Zukunft.

Ein Beispiel für ein Planen und Handeln im klaren Bereich ist das Kochen nach Rezept.

Alles, was ich mit einer einfachen Aufgabenliste abhaken kann, fällt in diesen Bereich.

Um Herausforderungen in diesem Bereich zu lösen, muss ich Prüfen, Kategorisieren, Antworten. Ich kann bewährte Praktiken (best practice, meistens gibt es nur eine) anwenden.

KOMPLIZIERT

Im komplizierten Bereich besteht die gleiche Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Sie ist für Experten ersichtlich und erklärbar.

Wenn ich verstehen will, warum mein Digital-Radio lauter wird, wenn ich am Lautstärkeregler drehe, muss ich einen Physiker befragen. Dieser erklärt mir, wie die Transistorschaltung im Radio den Strom im Lautsprecher verstärkt.

Klassisches Projektmanagement orientiert sich am Handeln im komplizierten Bereich. Die Experten vermitteln dem Projektleiter ihr Wissen. Gemeinsam entwickeln sie einen validen Projektplan.

Hier geht man mittels Prüfen, Analysieren, Antworten heran, und man kann gute Praktiken (good practice, es gibt häufig mehrere) anwenden.

KOMPLEX

Die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung ist im komplexen Bereich zeitlich in die Vergangenheit gerichtet. Ich kann meine Herausforderung erst im Nachhinein verstehen.

Wie bei einem Familienstreit. Ich weiß, dass es zu Weihnachten Streit gibt. Aber ich weiß im Voraus nicht, wer beteiligt ist und um welches Thema es geht. Hinterher bin ich schlauer: Onkel Erwin und Tante Martha haben sich dieses Jahr um die Familienfinanzen gestritten.

Forscher probieren aus und experimentieren, um zu erklären, warum eine Sache sich verhält, wie sie sich verhält. Dabei wird versucht, das Experiment in einem sicheren Kontext durchzuführen. Im Chemielabor wird zuerst mit geringen Mengen an Substanzen gearbeitet. Wenn man den Zusammenhang begriffen hat, werden größere Mengen genommen.

Hier ist der Ansatz Ausprobieren, Prüfen, Antworten und wir können dann Praktiken im Entstehen (emergent practice) feststellen.

KAOTISCH

Im kaotischen Bereich kennt keiner die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Zusätzlich gibt es einen hohen zeitlichen Handlungsdruck. (kurzer Einschub: Ich bin mir der falschen Rechtschreibung bewusst. Im Englischen hat Dave Snowden sein Modell mit vier Begriffen beschrieben, die alle mit einem ‚c‘ beginnen. Ich greife diese Alliteration im Deutschen mit dem ‚k‘ auf.)

Ein Hausbrand ist für eine Feuerwehr jedes Mal eine neue Situation. Trotzdem hat sie sich durch regelmäßiges Training und Übung darauf vorbereitet, dass sie auch mit dieser unbekannten Situation umgehen kann. Zusätzlich muss sie so schnell wie möglich handeln.

Hier ist der Ansatz Handeln, Prüfen, Antworten, und wir können neue Praktiken entdecken.

UNORDNUNG

Wenn man die Herausforderung keinem der vier Bereiche zuordnen kann, landet man in der Unordnung.

Hier reagiert man mit dem, was man am besten kann: Viele gehen in den klaren oder den komplizierten Bereich. Menschen mit einem agilen Mindset finden das Problem im komplexen Kontext wieder und Mitarbeiter aus Katastrophenstäben im kaotischen. Häufig landen sie alle im falschen Bereich.

Aus meiner Erfahrung heraus schaue ich aus ungeordneten Situationen erst einmal auf den Handlungsdruck, bevor ich mich in Abhängigkeit davon für den kaotischen oder komplexen Bereich entscheide. Im Weiteren prüfe ich, ob mir Experten bei derProblemlösung helfen können. Wenn es keine Experten gibt, bleibe ich im komplexen Bereich. Wenn es aber welche gibt, sollte es gelingen, in eine handhabbarere Situation im komplizierten Bereich zu wechseln. Eine einfache Aufgabenliste wird nicht helfen.

CORONA

Die verschiedenen Herausforderungen von Corona nutze ich als Beispiel für die unterschiedlichen Bereichen.

  1. Das grundsätzliche Problem verorte ich im kaotischen Bereich. Es müssen unter Zeitdruck Entscheidungen für die Zukunft gefällt werden, die nur in kleinen Feedbackzyklen funktionieren. Erst nach 2–4 Wochen wird klar, ob die Entscheidungen gut waren. Deshalb ist diese Vorgehensweise für uns als Bürger manchmal schwer nachzuvollziehen, gleichzeitig ist es aus Sicht des Modells richtig.
  2. Das Forschen am Impfstoff ließe sich dem komplexen Bereich zuordnen, aber durch den Zeitdruck kommt es in den kaotischen Bereich. Forschung ist nicht planbar. Im März 2020 war nicht klar, dass es zum Ende des Jahres zugelassene Impfstoffe geben würde.
  3. Die Beschaffungsprobleme bei den Masken, der Aufbau der Impfzentren, die Terminvergabe fürs Impfen sind klassische Managementaufgaben und dem kompliziertem Bereich zuzuordnen.
  4. Das Leugnen von Corona lässt sich dem klaren Bereich zuordnen. In dieser klaren und einfachen Welt existiert Corona nicht. Das Leugnen entspricht dabei auch dem Leugnen aus dem Responsibility-Process von Christopher Avery.
  5. Und für die Bevölkerung im allgemeinen landen wir eher im Bereich der Unordnung, denn wir haben alle noch keine vergleichbare Situation erlebt.

Was kann uns das Modell noch aufzeigen? In allen Bereichen gibt es Lern-Schleifen, in denen regelmäßig überprüft wird, wie eine Herausforderung besser gelöst werden kann. Es muss darum gehen, wie man Vorgehensweisen und Entscheidungen, die gut liefen, gestärkt werden können und wie man Dinge, die nicht optimal liefen, verbessern kann. Hier sind wir alle eingeladen, sich diesem Lernen zu stellen.

Das Cynefin-Modell kann helfen, mit der nächsten Krise besser umzugehen. Damit können wir etwas für unsere Resilienz tun und trotz aller Unwägbarkeiten optimistisch in die Zukunft schauen.

P.S.: Wer das Cynefin-Modell genauer durchdenken will, lese das Buch „Cynefin – weave sense-making into the fabric of our world“ von Dave Snowden & Friends.

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